Un encuentro en Sevilla – eine Begegnung in Sevilla

Es kann noch nicht lange her sein, und dennoch kann ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.
Jedenfalls war es gegen Ende des Monats Mai; denn die Sevillaner Straßen- und Parkbäume blühten prächtig. Viele blaue Jacaranda-Blütenkelche rieselten bereits herab von den weit ausladenden Exoten, und deren mimosenartige Fiederblätter begannen sich zu entfalten.

Der Garten des Palacio de las Dueñas, jetzt gegen Abend von einem milden Licht übergossen, das alle Farben der Blumen und der bunten Kacheln erträglich machte – im Gegensatz zum grellen Aufschrei in der Mittagszeit, der einiges blendend herausstechen und weite Partien im Schatten verschwinden ließ, dieser Garten also war der rechte Ort, den turbulenten Tag ausklingen zu lassen. Irgendwann war ich der letzte der wenigen Besucher, und bereits zweimal war der Aufseher mit
bedeutungsvoll erhobenem Zeigefinger an mir vorbeigeschlurft, hoffend, ich würde rechtzeitig aufbrechen und seinen ersehnten Feierabend nicht gefährden. Aber es war ja noch eine gute Viertelstunde Zeit, den Palast zu verlassen!

Obwohl die Holzbank, auf der ich saß, nicht gerade bequem war, überkam mich bald die Müdigkeit, und ich musste wohl kurz eingeschlafen sein. Als ich meinte, aufgewacht zu sein, hatten sich links und rechts von mir zwei Männer platziert – ganz dem unausgesprochenen, spanischen Gesetz zuwider, sich nicht ungebeten zu einem Unbekannten zu setzen. Ich zog die Beine an, hielt mich kerzengerade, stierte auf einen Rosenstock, tat – wahrscheinlich vergebens – so, als sei nichts geschehen, und suggerierte den Beiden, sie seien Luft für mich.

„Im Ernst, lieber Theodor“, sprach mich da der zu meiner Rechten Sitzende unversehens an, „etwas ridikulös ist es schon, dass du diesen Wolfgango Amadé zum Amadeus hochgestuft und an deinen Namen, also gleichsam an deinen Zopf gehängt hast.“
Und der zu meiner Linken legte seine rechte Hand auf meinen linken Oberschenkel, tätschelte ihn sanft und meinte:
„Nehmen Sie es ihm nicht krumm, er hat es nie gelernt, zurückhaltend zu sein.“
Und schon begannen die Beiden einen hitzigen Disput, dem zu folgen mir schwer fiel, da ich immer noch damit beschäftigt war, zu ergründen, warum ich Theodor heißen sollte. Schließlich ermannte ich mich, gebot Stille und verlangte, die Herren sollten sich doch erst einmal vorstellen, bevor ich bereit sei, ihre Anwesenheit zu akzeptieren.
Tatsächlich schwiegen beide urplötzlich, und der zur Rechten legte nun seine Linke auf meinen rechten Oberschenkel. So fixiert beobachtete ich, wie der Aufseher an uns vorbeiging, sich, ohne uns zu beachten, zum Ausgang begab, der Kassiererin ein Zeichen machte, das wohl heißen sollte, alle Besucher hätten den Palast verlassen, seine Tour ringsum abspulte, in den Räumen alle Lichter löschte und alle Türen schloss, wie es die tägliche Prozedur verlangte.

Wir drei Übersehenen harrten der Dinge und bewegten uns erst wieder, als alles geregelt erschien und der Palast von außen verriegelt war.
Hurtig sprang ich auf und setze mich den Beiden gegenüber auf einen Klappstuhl, den sich der Aufseher für seine längst vergangene Siesta hingestellt und abzuräumen vergessen hatte. Raschen Blickes erkannte ich: dort drüben saßen ein Herr und ein Diener. Dass Ersterer etwas von einem Zopf gefaselt hatte, schien mir nun nicht mehr verwunderlich, denn er hatte wie auch der schlicht gekleidete Diener selbst einen; freilich war seine bezopfte Perücke von feinster Art, entgegen dem eher unachtsam in einem Haarbeutel zusammengefassten natürlichen Haar des Dieners.
Der Diener schien mir jünger zu sein, der Herr keinesfalls alt. Die Dreißig hatten beide ganz sicher noch nicht erreicht.
Ihren Disput hatten sie inzwischen vergessen, jedenfalls führten sie ihn nicht fort.
„Wolf-gan-go Ama-dé Mo-zart“, trällerte der Diener vor sich hin, wobei aus dem letzten Wort ein „Mo-záhart“ wurde, und der Herr meinte:
„Da fragt man sich schon, ob dieser Besungene ein Italiener, ein Franzose oder ein Deutscher sein wollte oder war.“
„Vo-hon  al-len et-was und noch meher“, war der Kommentar des Trällerers.
Und schon sprang der Herr auf, stellte sich in Positur und ratterte einen Essay über Mozarts musikalische und geistige Herkunft herunter, den er mit der Feststellung beendete, die Deutschen hätten das einzig Richtige getan, als sie „Don Giovanni“ einen „Don Juan“ nannten, was ja dem spanischen Original entspreche, obwohl es vielleicht nie ein Original gegeben habe. Freilich, es sei nicht zu leugnen, dass es jetzt und hier ihm – sozusagen dem Sevillaner Original – zu huldigen gelte.
Da lachte der Diener hellauf. Die Zeiten der Huldigungen seien vorbei, das habe Beaumarchais schon etliche Jahre vor der Französischen Revolution erkannt. Er habe den hohen Herren zwar nicht den Kopf abgenommen, aber mit seinem „Figaro“ – und er zeigte mit beiden Zeigefingern auf sich – den Schneid abgekauft.
„Und um mir so krudes Zeug aufzubinden, haben Sie, meine Herren, mich dazu verleitet, mich mit Ihnen in dem Palast der reichsten spanischen Adelsfamilie einschließen zu lassen!“, warf ich ein.
„Wenn Sie nun schon mal Sevilla besuchen“, gab mir der angebliche „Don Juan“ zu wissen, „müssen Sie, lieber Theodor, sich das schon gefallen lassen, zumal ich Ihnen schon längst mitteilen wollte, dass Sie der Erste waren, der Donna Annas unsterbliche Liebe zu mir, dem in Wirklichkeit Enttäuschten, Geprellten und Verfolgten, erfasst und kenntnisreich beschrieben hat.“
Figaro wischte das beiseite und mokierte sich darüber, dass ausgerechnet ein Hoffmann, also ein einem Hof Verpflichteter, so ein romantisches Gebrabbel veröffentlicht habe. Kein Wunder, dass man sich mit mir in einem Palast und nicht im bürgerlichen Milieu habe treffen müssen.

In der nun entstandenen Schnaufpause suchte ich in Gedanken nach einem verbalen und tatsächlichen Ausweg aus der vertrackten Situation und aus dem illustren Palast, fand aber keinen rasch erreichbaren.
Die blechern klingende Glocke einer nahen Turmuhr schlug zwölfmal. Konnte es wirklich sein, dass es schon Mitternacht war? Wie konnte ich ohne Beleuchtung – der Mond schien keinesfalls – meine beiden Gegenüber sehen? Was für eine Musik war das, die da aus dem Innern des Palastes zu uns herüberwehte? Und woher kamen plötzlich die Leute, die auf den Festsaal zueilten? Meine „Freunde“ nahmen mich in ihre Mitte und schleppten mich mit hinüber, dem Zug der düsteren Gestalten folgend. Kurz vor dem Betreten des Saales reihten sie mich ein.
Voran stolzierte Don Juan. An der Türschwelle hielt er kurz an und eilte nach dem lauten Ruf des Zeremonienmeisters, der ihn als „Don Juan, der Hölle verschriebener Held aller Frauen“ vorstellte, einer thronenden Frauengestalt entgegen, kniete vor ihr nieder und erhielt quasi ihren Segen.
Nun war ich an der Reihe.

Mit „Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Kapellmeister, Komponist und Dichter aus Deutschland“ wurde ich angekündigt, ein Raunen ging durch die Menge, und ich stolperte tief gebückt der hohen Dame entgegen, endlich erkennend, warum ich Theodor heißen sollte, wobei mein Hintern höher geriet als mein Kopf. Mühsam aufblickend erschauerte ich. Eine uralte, weißgelockte, wie ein Teenager gekleidete und überschminkte Frau blickte huldvoll auf mich herab und meinte, ich solle nicht so verdattert schauen. Sie sei es wirklich, Doña María del Rosario Cayetana Paloma Alfonsa Victoria Eugenia Fernanda Teresa Francisca de Paula Lourdes Antonia Josefa Fausta Rita Castor Dorotea Santa Esperanza Fitz-James Stuart y de Silva Falcó y Gurtubay, Herzogin von Alba. Seit ihrem Tode sei es ihr täglich nur noch eine einzige nächtliche Stunde lang vergönnt, hier zu residieren. Gott möge es ihrem vermaledeiten Sohn, Carlos Fitz-James Stuart, dem XIX. Herzog von Alba, verzeihen, den Palast dem zufällig dahergelaufenen Publikum geöffnet zu haben. Wer da so alles komme, um das herzogliche Ambiente zu beglotzen, wolle sie gar nicht wissen. Aber sie freue sich natürlich, dass der von ihr geschätzte Don Juan mich aus der Masse der Gaffer herausgelöst und ihr zugeführt habe. Ich passe recht gut zu all den Verstorbenen, die ihr die Ehre erweisen. Sie erhob sich mühsam und ließ sich von einem Diener – nein, nicht von Figaro, der immer noch auf seinen Zutritt warten musste – zur angerichteten Tafel führen und bedeutete mir, ihr zu folgen. Zu ihrer Linken, an der Seite ihres Herzens, musste ich Platz nehmen. Alle nahmen mich ins Visier, und in die plötzlich eingetretene Todesstille ertönte von ganz weit her ein Trompetensignal.

Mit dem Ausruf „Damit es Leonore und uns allen Glück bringe, tut es mir nach!“ warf die hohe Dame ihr Sektglas in die Mitte der Tafelrunde, und nach einem kurzen Schreckmoment zerschellten unzählige, feinste, mundgeblasene Gläser auf dem glattpolierten Boden. Alsobald langte die
Herzogin kräftig zu und verschlang Unmengen von Köstlichkeiten der überreichen Tafel. Das war das Signal für die illustre Gästeschar, es ihr schmatzend und rülpsend gleichzutun. 
Irgendwie musste auch Figaro zugelassen worden sein; denn er führte eine dralle und dennoch agile Zigeunerin vor die Herzogin, wobei jeder Schritt der Beiden gläsern knirschte.
Er verbeugte sich tief und rief:
„Heute präsentiere ich Ihnen, Durchlauchtigste, Carmen, die schöne Sevillaner Zigarrendreherin. Stören Sie sich nicht an dem Dolch, der ihr noch im Herzen steckt.“
Die Herzogin jauchzte auf und all die untoten Toten in der Runde taten es ihr nach. Und schon erklang Georges Bizets Musik von Carmens Todesszene vor der Sevillaner Stierkampfarena, zu der die Vielbewunderte einen lasziven Tanz hinlegte, sich schließlich den Dolch aus der Brust riss und sich selbst noch einmal, quasi ein letztes Mal, den Todesstoß gab. Hingegossen auf die Scherben der Sektgläser lag sie regungslos und wurde auf einen Wink der Herzogin hin von zwei als Ochsen verkleideten Dienern fortgezogen.

„Wenn wir heute die Ehre haben, den berühmten E. T. A. Hoffmann zu Gast zu haben“, nahm die Herzogin erneut des Wort, „sei es uns vergönnt, seine große Fertigkeit auf dem Fortepiano zu bestaunen. Er soll ja ganz himmlisch phantasieren.“
Rasch wurde abserviert, ein Flügel wurde hereingeschoben, und ich musste, ob ich es wollte oder nicht, den Klavierschemel  einnehmen. Gott sei Dank fielen mir „Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden“ meines Alter Egos ein und nach kurzem Präludieren spielte ich mich mit Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen in Rage, ohne zu bemerken, dass das Geraune um mich herum immer leiser wurde und sich einer nach dem anderen gelangweilt entfernte, klammheimlich, versteht sich, was mich demnach auch nicht davon abhalten konnte, die Variationen zu Ende zu bringen und mich der traurigen Süße der abschließenden Aria hinzugeben.
Der misstönende Ein-Uhr-Glockenschlag der nahen Turmuhr riss mich aus meinen musikalischen Träumen und ich fand mich jählings auf der harten Bank am Rande des Palastgartens wieder. Der Aufseher hatte mich wachgerüttelt, und mir blieb nichts anderes übrig, als in Gedanken versunken den Ort des Geschehens zu verlassen. Die Turmuhr schlug achtmal. Es war Zeit, die nahe Tapas-Bar aufzusuchen, vielleicht würde ich dort auf den mir treu ergebenen Gottlieb stoßen. 

Beim Blick zurück durch das Eisengitter des Palasteingangs war keine einzige Sevillaner Berühmtheit mehr zu sehen, kein Don Juan, kein Figaro und keine Carmen, von der überreifen Herzogin ganz zu schwiegen.


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