Aber Beuys bin ich mal im Flur begegnet

 

Schon mein Vater erkannte mein Talent.
„Nicht übel“, rief er, als ihm meine Mutter die Tapete zeigte, die ich liegend und sitzend durch die Gitterstäbe meines Babybettchens bemalt hatte. Stehen konnte ich damals noch nicht. Mir Farbstifte oder gar Wasserfarben zu überlassen, war niemandem eingefallen, so nutzte ich, was mir mein Körper bot.
„Ganz deutlich zu sehen: Punkt, Punkt, Komma, Strich“, erläuterte mein Vater sichtlich zufrieden; denn er war ein Anhänger der gegenständlichen Malerei.
Sobald ich stehen konnte, bot sich mir eine größere, nicht durch Gitterstäbe unterteilte Malfläche an.
Mein pädagogisch gewiefter Vater hatte mir inzwischen Ölmalkreiden besorgt. Mit ihnen gelang es mir, die Brüste meiner Mutter in einem zarten Rosa auf die Tapete zu bannen; und jedes Mal, wenn ich bei Mama trinken wollte, deutete ich darauf. Ich wurde von ihr recht schnell verstanden und wunderbar versorgt. Es bedurfte keines Weinens und keiner Worte.
Der Nachteil war nur, dass ich während meiner dreijährigen Stillzeit vollkommen still blieb, nie auch nur ein Wort sprach und für stumm gehalten wurde.
Das änderte sich erst, als ich von der Milch zum Bier übergegangen war.
Nachdem mir meine Mutter den auffordernd hochgehaltenen Bierkrug weggenommen und in der Spülmaschine verstaut hatte, fühlte ich mich gemüßigt „noch eins“ zu rufen.
Die ganze Familie samt größerer Schwester, Großvater und Großmutter versammelte sich und wartete auf mein „noch eins“. Sie klatschten alle begeistert in die Hände, wenn mich nach einer weiteren Maß Bier verlangte.
Mein Vater jedoch wurde skeptisch.
„Seit der Junge so viel Bier trinkt, sehen seine Malereien verdammt nach van Gogh aus, so verdreht, so wabbernd, gar nicht mehr akkurat wie in der Milchphase“, beklagte er sich.
Das entlockte mir die nächsten zwei, eigentlich drei Wörter.
„Wart’s ab“, tröstete ich ihn und machte mich ans Werk.
Da mein Kinderzimmer längst keine freie Tapetenfläche mehr bot, wich ich ins Wohnzimmer aus. Die Alpenlandschaft mit brüllendem Hirsch, die ich über die Couch zauberte, war exakt so, wie sie sich mein naturliebender Vater ausgemalt hatte.
„Komm her“, rief er, „trink ein Spezi, du hast es verdient!“
Listig wie er war, brachte mich mein Vater damit nach meiner Milch- und nach meiner Bierphase in die Speziphase, in der ich quasi prickelnde Kunstwerke schuf, die sich sehen lassen konnten. Bestenfalls zwanzig Kästen Spezi brauchte ich, bis das gesamte Wohnzimmer nebst Elternschlafzimmer und Küche verschönert war.
Meine ältere Schwester allerdings wehrte sich vehement, als ich ihr ein Kloster im Stile Caspar David Friedrichs in ihr Zimmer malen wollte.
„Mal mir lieber einen schönen Mann“, bat sie errötend, was mich wieder zu meinen Anfängen in der Malerei zurückführte, nämlich zum Portrait.
Richtiggehend spritzig kam ihr die nackte Figur vor, die ich als Sitzporträt im Stile des Meisters von Flémalle gestaltet hatte. Das Unterteil des schönen Jünglings war dadurch nicht zu sehen und ließ der Phantasie ihren nötigen Raum.
Die Unterteile männlicher und weiblicher Art übte ich in den Räumen des Kindergartens, den zu besuchen mich meine Eltern bald zwangen. Diese filigranen Kunstwerke entsprachen meiner Kabaphase. Bier und Spezi wurden im Kindergarten nicht gerne gesehen und zur Milchphase wollte ich nicht zurück, zumal sich meine Mutter sicher geweigert hätte, mir im Kreise dreier Kindergärtnerinnen und vieler Kinder die Brust zu geben.
Fast sämtliche Räume des Kindergartens waren verziert, als meinen Eltern empfohlen wurde, mich frühzeitig einzuschulen. Zwar könne ich außer „noch eins“, „wart’s ab“ und dem neu hinzugekommenen „verpisst euch“ nichts sagen, könne dagegen bestens alles wie Walt Disneys Künstler zeichnerisch ausdrücken. Auf der Grundschule bestehe die Chance, zu mehr Wörtern zu kommen.
Das war auch tatsächlich so. Viele Wörter wurden mir gegen meinen Willen aufgezwungen, manche ergaben sich aus praktischen Gründen und eine Vielzahl an Wörtern diente dem sozialen Kontakt mit den Klassenkameraden und Klassenkameradinnen, die es schätzten, wenn ich ihre öden Tische mit Bildergeschichten ausstattete.
Für jede dieser Geschichten verlangte ich etwas zu trinken, und so kam es, dass diese Bildgeschichtenphase gleichzeitig meine Wahllosschluckphase wurde, denn was ich da gereicht bekam, war nicht auf einen Nenner zu bringen.
Höhere Bildungsweihen blieben mir erspart. Sowie es das Gesetz zuließ, brachte mich mein Vater in die Obhut eines Malermeisters, der mich wunderbare waagerechte und senkrechte Linien zu ziehen und klare Farbflächen zu pinseln lehrte. Das hinwiederum erzürnte meinen Vater, weil ich in unserem Haus einige rechteckige Flächen im Stile Mondrians bemalt hatte. Mein Vater konnte sich nicht enthalten, mich dafür zu prügeln.
Es kam nicht zur Ausbildung einer benennbaren Phase. Ich fühlte mich künstlerisch verkannt, wurde depressiv und begann in der Werkstatt meines Meisters Lösungsmittel zu schnüffeln. Ab da waren meine Linien nicht mehr einfach so gerade, sondern bekamen jugendstilige Schwünge und Kurven. Die nun entstandenen Bilder, häufig Illustrationen in den Geschäftsbüchern meines Meisters, gehörten der Schnüffelphase an, die zwangsbeendet wurde.
Richtungslos und mittellos irrte ich durch die Welt der Erwachsenen, ohne ein meinem begrenzten Wortschatz gemäßes Örtchen oder gar eine adäquate Arbeit zu finden. Mein Vater weigerte sich, mich weiterhin zu beherbergen, weil ich mich weigerte, ihm sein neu aufgebautes Gartenhäuschen im Stil meiner längst überwundenen nachbierischen Speziphase zu verschönern. Meine gütige Mutter freilich steckte mir immer wieder Geld zu, vielleicht auch nur, um meine sie überraschenden Besuche abzukürzen. Freilich verdonnerte sie mich dazu, eine Geschichte der Malkunst in einer öffentlichen Bibliothek durchzuackern, wollte ich weiterhin ihren Geldsegen genießen.
In dieser richtungslosen Zeit geschah es, dass mich mein Sprayweg an der Kunstakademie vorbei führte. Mutig, nein, übermütig betrat ich die heiligen Hallen. Der grandiose Augenblick ließ mich taumeln, ich sank in mich zusammen und wurde vom Hausmeister mit einem Glas reinen Wassers von den Stufen, die mir zum Himmel zu führen schienen, auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Ich erklomm mit der Hilfe dieses freundlichen Mannes die Treppe zum ersten Stock und wurde von ihm mit den Worten „Sie sehen so schön ausgemergelt aus“ den Flur entlang geführt. Bei diesem Satz kam uns ein Herr mit Hut entgegen, der plötzlich stehenblieb und den Hausmeister fragte:
„Meinen Sie mich?“
Als er weitergegangen war, flüsterte mir der Hausmeister zu:
„Das war Beuys!“
„Aha“, sagte ich und begann vor Rührung zu weinen und war damit in meiner jetzigen Phase, der Rotz- und Wasserphase angelangt, nachholend, was mir als Baby versagt geblieben war.
Seither lebe ich in einem Holzverschlag auf einem Schrottplatz, wo ich meine kindlichen Erlebnisse innerlich verarbeite. Ein Schäferhundmischling mit Schlappohren und ein zahmes Frettchen sind das Publikum meiner Erleuchtungen.
Ab und an besuche ich meine Mutter, um Geld zu fassen. Mein Weinen hat sogar meinen Vater besänftigt. Er hat mir versprochen, mich dauerhaft zu finanzieren, wenn ich nur wieder wie in früheren Phasen gegenständlich male. Das werde ich wohl oder übel tun, nicht ohne mir selbst immer wieder reuevoll in Erinnerung zu rufen, was einst geschehen war, und nicht ohne mir selbst mit zugegeben recht vielen Wörtern den nötigen Lebensmut zuzusprechen:
„Aber Beuys bin ich mal im Flur begegnet!“

Überschrift und Schlusssatz stammen von Rainer Zenz. Alles andere ist frei erfunden.