Ich habe es nicht gewollt

Es sagt sich so leicht dahin:
„Mein Nachbar.“
Eigentlich hatte ich mich zum Nachbarn gemacht, hatte mich neben den alten Herrn gesetzt, dessen Bart und Haare fast gänzlich eingewachsen waren, so lange saß er wohl schon hier im Hofgarten zu Wien.
Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht. Da ist es leicht, Nachbar zu sein.
Lange schwiegen wir.
„Sehr heiß heute, selbst hier im Schatten der alten Bäume“, sagte ich, „Dauerhoch mit Wüstenwind aus der Sahara.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
Die Hitze hatte mich tatsächlich ganz schön am Wickel. Der Schweiß rann mir aus den Achselhöhlen und über die Rippen hinab.
„Letzte Woche noch waren es bestenfalls 17° Celsius“, sagte ich, „Tiefdruckgebiet aus Island.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
Was sollte ich weiters dazu sagen?
Ich dachte nach und stierte auf den Boden vor unseren Füßen.

Themen gab’s eigentlich genug für ein Gespräch auf einer Parkbank.
Also auf ein Neues:
„Was sich der Papst so denkt in letzter Zeit“, sagte ich, „ich meine mit der Geburtenregelung, wo doch eh in der Dritten Welt die Kinder nur so wegsterben wie die Fliegen.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
„Weil’s doch wahr ist“, sagte ich, „ganz Südamerika und halb Afrika sind katholisch. Die brauchen keine Geburtenregelung bei der Säuglingssterblichkeit, die die haben.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
„Ja, meinen Sie denn, ich wollte so etwas gewollt haben?“, ereiferte ich mich und bekam keine Antwort.
War vielleicht kein Thema für so einen alten Mann.
„Die Renten werden sie sicher kürzen“, sagte ich, „die Politiker, meine ich.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
Ich lachte hellauf.
„Klar, würde ich auch nicht wollen, wenn ich ein alter Nassauer wäre. Auf Kosten anderer zu leben fiele mir zwar schwer, aber ich kann schon verstehen, dass Sie nicht von Hundefutter leben wollen, obwohl, so billig ist das auch wieder nicht. Da hilft nur eines: nicht so alt werden“, ich musterte ihn von der Seite, „so alt wie Sie zum Beispiel.“
„Ich habe es nicht gewollt“, sagte mein Nachbar.
„Ja, ja, das sagt sich so leicht dahin“, sagte ich, „aber dagegen was gemacht haben Sie auch nicht, oder?“
Er war inzwischen aufgestanden. Seine Augen verfingen sich kurz in meinem Blick, er nickte mir zu und gab mir das dicke Buch, das er die ganze Zeit über neben sich, also zwischen uns, liegen gehabt hatte.
Ich blätterte zu den ersten Sätzen:

Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke. Ein Sommerfeiertagabend.
Leben und Treiben. Es bilden sich Gruppen.
EIN ZEITUNGSAUSRUFER: Extraausgabe - ! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!

Ich blätterte weiter:

Eine andere protestantische Kirche.
PASTOR GEIER: - - Und schauet um euch: Glänzende Leistungen des deutschen Tatengeistes reihten sich wie die Perlen einer schimmernden Schmuckkette aneinander. Er schuf sich das Wunderwerk des U-Bootes. Er stellte jenes märchenhafte Geschütz her, dessen Geschoß bis in die Ätherregionen des Luftmeeres aufsteigt und Verderben ...

Ich schaute auf den Buchdeckel:

Karl Kraus
Die letzten Tage der Menschheit
Tragödie in fünf Akten, pipapo

Ich blätterte ganz nach hinten.
Lange blätterte ich; denn das Buch war unmenschlich dick.
Wie es wohl ausgeht?
Da stand:

DIE STIMME GOTTES
Ich habe es nicht gewollt

Ich blickte auf.
Mein Nachbar hatte sich längst verkrümelt.

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