Petit(s) Four(s)


Damit kein Missverständnis aufkommt: der ältere Mann, vielleicht ein Herr, den ich seit Tagen beobachtete, war zwar etwas altertümlich, vielleicht sogar etwas schäbig gekleidet, und an den Ellenbogen war sein Jackett ein wenig abgewetzt, doch vom locker umgelegten Seidenschal bis zu den rissigen Lackschuhen war alles picobello sauber. Nein, er schien mir kein heruntergekommener Stadtstreicher zu sein, eher ein abgestiegener Grandseigneur.
Er kehrte jeden Nachmittag, gerade wenn ich dabei war, die Zeitungen durchzulesen, in meinem Stammcafé ein, setzte sich im hinteren, dunklen Eck, das andere Kunden mieden, an ein kleines Tischchen und bestellte einen Kleinen Braunen und ein Petit Four. Bis dahin war mir nicht geläufig, dass es Petits Fours auch in der Einzahl gab. Er dagegen fand es offensichtlich ganz gebräuchlich, nur ein einziges Stückchen zu bestellen. Ich konnte das ohne Verrenkungen beobachten, da ich des Lichtes wegen mit dem Rücken zum großen Fenster neben der gläsernen Eingangstüre saß und mein Blick über den Zeitungsrand geradeaus auf ihn traf. Nach wenigen Tagen ging mir auf, dass er schon beim Betreten des Cafés seine Augen auf die große Auswahl an Petits Fours hinter der Glasfront der Theke richtete und dann an seinem Platz der Bedienung, einer älteren Schwarzgekleideten mit Hochfrisur und beigen Gesundheitsschuhen, seine spezielle, täglich wechselnde Auswahl unmissverständlich vermitteln konnte, wobei er die Lächelnde zu meiner Verwunderung vertrauens- und bedeutungsvoll ansah.
Nicht, dass er das Petit Four gleich heißhungrig verschlungen hätte, nein, er betrachtete es verzückt, zog erst einmal sein blütenweißes Taschentuch aus der linken Hosentasche, entfaltete es, wischte sich damit über die Stirne und schnäuzte sich diskret, den Blick nicht von dem süßen Stückchen wendend. Beim Zusammenfalten des Taschentuchs schaute er auf, sich vergewissernd, dass er niemanden mit seinem Schnäuzen gestört hatte, steckte es in die linke Hosentasche zurück und setzte dann die Kaffeetasse an den Mund. Trank er überhaupt oder deutete er es nur an?
Auf jeden Fall war ihm warm geworden; denn er lüftete sein Jackett ein wenig und machte damit den Blick frei auf ein knittriges Leinenhemd. Wenn ich in so einem Moment an ihm vorbei zur Toilette ging, sah ich von der Seite, dass sich in diesem Hemd und unter dem zu weiten Hosenbund kein stattlicher Bauch befand, obwohl ich das vermutet hatte. Er – nein, nicht der Bauch, sondern der Herr – hatte wohl schon bessere Zeiten gesehen. Schmalhans musste seit geraumer Zeit sein Küchenmeister sein.
Wieder zurück an meinem Platz, nahm ich mir die nächste Zeitung vor, las ein paar Zeilen und lugte dann wieder, mal über die Zeitung, mal an ihr vorbei, nach hinten zu dem im Dunklen sitzenden Herrn.
Zu seinem Ritual gehörte, dass er nun seiner rechten Hosentasche eine Taschenuhr entnahm. Erst dadurch konnte mir auffallen, dass er unter dem Jackett und über dem Hemd keine Weste trug. Vielleicht war das vordem anders gewesen; denn er versuchte, die Uhr nach einem kurzen Blick auf das Zifferblatt und einem langen Seufzer wie traumverloren in das imaginäre Uhrentäschchen seiner nicht vorhandenen Weste zu stecken. Verlegen um sich blickend, versenkte er schließlich die Uhr, etwas nervös nestelnd, wieder in seiner rechten Hosentasche - mit einem zweiten Seufzer, versteht sich!
Den linken Ellenbogen stütze er auf dem Tischchen vor sich auf und schob den rechten Fuß etwas nach vorne in den Gang hinein, zog ihn aber sofort wieder zurück, weil ich ein zweites Mal dicht an ihm vorbei zur Toilette ging, um ihn mir auf dem Rückweg von hinten etwas genauer ansehen zu können.
Beim Friseur war er offensichtlich nicht gewesen. Seine weißen Haare waren sicherlich von ihm selbst hinten schräg und rupfig abgeschnitten worden und stauten sich ein wenig auf dem Seidenschal, der das Muster eines laufenden Hundes trug und ganz sicher aus besseren Zeiten stammte. Über der durchschimmernden Kopfhaut kräuselten sich spärliche Haare und bildeten einen leicht angedeuteten Hahnenkamm.
Beim Gang an ihm vorbei konnte ich auf die Hosenbeine sehen. Wie oder womit mochte er wohl die Bügelfalten hinbekommen haben? Seine Hände trugen keinen Ehering, doch ein Siegelring prangte am rechten Ringfinger. Erst beim nächsten Toilettenbesuch konnte ich das Motiv erkennen. Es war eine Krone und darunter befanden sich, natürlich spiegelbildlich, die Buchstaben A. v. E.
Während ich, wieder zurück an meinem Platz, das Kinoprogramm durchstöberte, grübelte ich über die Buchstabenfolge A. v. E. nach. Dass es sich dabei um die Abkürzung des Namens eines Adeligen handelte, schien mir eindeutig zu sein. War das der Name des von mir Observierten oder der eines seiner Vorfahren? Ich ging typische A-Namen durch. Adalbert und Adam, Adolar und Adolf, Alberich und Albrecht, Alexander, Arnold und Arnulf, Anselm und schließlich August fielen mir ein. Ich fixierte mein Gegenüber und entschied mich leichtfertig für August. Und beim v. E. blieben nach längerem Überlegen von Erdődy und von Ehrenstein übrig. August von Ehrenstein gefiel mir, doch ich entschied mich von jetzt auf dann gegen August und für Ádám sowie gegen von Ehrenstein und für von Erdődy. Schließlich saßen wir ja hier in einem Wiener Café. Da schien mir ein ungarischer Name bestens zu passen. Freilich war ich mir keinesfalls sicher, dass es im Ungarischen gebräuchlich war, dem Erdődy ein von voranzusetzen. Ádám von Erdődy passte aber so haargenau für diesen Herrn, der immer noch sein Petit Four vor sich liegen hatte, dass ich alle Bedenken in den Wind schlug und auch nicht mehr in Erwägung zog, A. v. E. könne ein Vorfahre sein.
Ádám von Erdődy holte seinen Blick aus weiter Ferne und senkte ihn auf das Petit Four. Mit spitzen Fingern nahm er es auf, steckte es auf einmal in den Mund, verharrte zunächst regungslos wie gebannt und schob dann das Stückchen von der linken Backentasche in die rechte und wieder zurück. Das alles mit geschlossenen Augen. Sehr langsam und unter wohligem Gebrummel begann er bedachtsam zu kauen. Es dauerte lange, bis das Petit Four so fein zermahlen war, dass er es quasi auf der Zunge zergehen lassen konnte. Das war eine Prozedur von gewiss fünf oder sechs Minuten, und Herr von Erdődy ließ das Ergebnis sachte die Speiseröhre hinabgleiten. Der unauffällig sich bewegende Adamsapfel verriet das ansonsten nicht merkliche Schlucken. Nach ein paar Sekunden meditativen Stillstandes griff Herr von Erdődy nach der Kaffeetasse und spülte sorgsam nach. Mit einem in Silber gefassten, elfenbeinernen Zahnstocher, den er seiner Brieftasche entnahm, und mit Hilfe eines auf der Rückseite im Stile Koloman Mosers emaillierten Taschenspiegels, den er sicher in einer Innentasche seines Jacketts verborgen hielt, säuberte er selbstvergessen sein Gebiss, verstaute anschließend alle Utensilien sehr sorgsam, entnahm seinem Portemonnaie einen peinlich genau abgezählten Betrag, legte ihn diskret unter die unbenutzte Serviette und verließ auf geradem Weg, ohne jemanden anzusehen, das Café.
Ich blieb jedes Mal, inzwischen seit bestimmt schon zwei Wochen, Tag für Tag oder besser Nachmittag für Nachmittag, nachdenklich zurück.

Ob mich der Teufel ritt oder ob mich ein mitleidiges Gefühl überkam, zumal mir beim Anblick Herrn von Erdődys immer wieder Beethovens glücklose „werthe Gräfin“ Anna Maria Erdődy in den Sinn kam, weiß ich nicht. Jedenfalls schärfte ich der Bedienung eines Tages beim Verlassen des Cafés ein, sie solle dem Herrn – „dem Herrn im dunklen Eck“, wie ich mich ausdrückte - am nächsten Tag drei Petits Fours statt des bestellten einen Petit Four vorlegen, aber um Himmels willen nicht verraten, von wem die Spende komme. Ich würde für die gesamte Zeche – ich orderte auch eine zweite Tasse Kaffee – ganz sicher und zuverlässig aufkommen.
Das tat die Bedienung auch tatsächlich, und ich hinter meiner Zeitung harrte gespannt der Reaktionen Herrn von Erdődys.
Er blickte zunächst höchst erstaunt und mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Teller mit den drei Petits Fours und richtete dann eine leise Frage, die ich nicht verstehen konnte, an die Bedienung, die verlegen lachte und kichernd, sich mehrmals unterbrechend stammelte: „Das, lieber Herr von Ehrenstein, ist die freundliche Spende eines ungenannten Unbekannten.“
Herr von Ehrenstein, also doch kein Herr von Erdődy und vermutlich auch kein Ádám, meinetwegen irgend ein Adalbert, Adolar oder Adolf, Alberich oder Albrecht, Alexander, Arnold oder Arnulf, Anselm oder doch der von mir anvisierte August, griff sich in den Halskragen, blickte verunsichert um sich, schaute wehmütig die drei Petits Fours an, erhob sich, verließ hoch erhobenen Hauptes das Café und wurde hier nie mehr gesehen.
In den nächsten Tagen wurde ich nur unwillig bedient. Die alte Schnepfe weigerte sich, mit mir mehr als die fürs Bestellen und Bezahlen nötigen Worte zu wechseln. Irgendwie fühlte ich mich vernachlässigt und unerträglich einsam. Was Wunder, dass ich mir ein anderes Café suchte, allerdings eines, in dem es auch köstliche Petits Fours gab, von denen ich mir täglich eines vorlegen ließ und in Gedanken und im Gedenken an Herrn Ádám von Erdődy – ja, trotzig blieb ich bei diesem Namen – genüsslich im Munde zergehen ließ.


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