Ja, das Schreiben und das Lesen
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Mein Vater hatte einen gelungenen Humor. Als er mir den Kopf abgeschlagen hatte, und Mutter ihn mir verkehrt herum wieder aufgesetzt hatte, brummelte er: „Hätte ich nur keine Thomas Mann und die Brüder Grimm lesende Inderin geheiratet!“ Dabei konnte meine Mutter doch gar nicht lesen. Das besorgte ich für sie. Wenn ich ihr vorlesen sollte, stellte sie sich seitdem mit ihrem verkehrt herum gehaltenen Buch vor dem Bauch immer hinter mich. Ja, ja, auch ganz alleine habe ich schon ganz schön viel schöne Literatur hinter mich gebracht. „Was andere vor sich haben, hast du längst hinter dir“, würde Vater sagen, wäre er nicht ... Aber das ist eine andere Geschichte: Mein Vater hätte dröhnend gelacht, hätte er gehört, wie der Pfarrer sagte: „Er ist gefallen wie ein Baum.“ Vielleicht konnte Vater es ja hören. Wer weiß schon, was in einem Toten in so einem Moment vor sich geht! Sagen konnte er jedenfalls nichts mehr, geschweige denn dröhnend lachen; denn Mutter hatte ihm den Mund zugenäht. „Wie ich ihn kenne“, hatte sie gesagt, als ich ihr zur Ablenkung Hauffs Geschichte von der abgehauenen Hand vorgelesen hatte, „wird er sonst selbst bei seiner Beerdigung irgend einen Quark daherreden.“ „Er ist gefallen wie ein Baum“, war natürlich ganz großer Unsinn. Vater war eher langsam dahingewelkt wie ein achtlos auf den Komposthaufen geworfenes Unkraut. Dazu verhalf ihm Mutters Lektüre in einem schmalen Bändchen mit einer Einführung in Ayurveda. Das heißt, auch das musste ich ihr vorlesen. Es ging darin um die Bekämpfung von Bandwürmern mit indischen Kräutern. Vater hatte zwar keinen Bandwurm im Darm, aber einen Darm, der sich durch die geheime Gabe des Kräuterextraktes langsam aber sicher auflöste. „Ich weiß nicht“, sagte Vater im Endstadium, kurz vor seinem Dahinscheiden zu Mutter, „ich glaube, ich habe einen Bandwurm. Kannst du dir nicht von unserem Sohn aus deinem Ayurvedabüchlein vorlesen lassen, was man dagegen tun kann?“ „Ich werde sehen, was sich machen lässt“, erwiderte Mutter, „denn Gelesenes kann nur als Gelebtes wirksam werden.“ Ich bin sicher, dass sie dabei dachte: „ ... so wie es bei unserem Nachbarn war.“ Aber das ist nochmals eine andere Geschichte: Mein Vater – er hatte noch ein, zwei Wochen zu leben - war ganz zufrieden. „Es hat keinen Falschen erwischt.“ Damit meinte er unseren Nachbarn, der in die Klapsmühle gebracht worden ist. „Ich komme nicht darauf, ich komme beileibe nicht darauf“, hatte dieser geschrien, als ihn die Männer in Weiß abtransportierten. Wer weiß, ob wir, Mutter und ich darauf gekommen wären, hätte ich ihr nicht Kafkas „Strafkolonie“ vorgelesen. Zumindest wäre die ganze Sache überhaupt nicht ins Rollen gekommen. Wir saßen an der Grenze zum Nachbarn, Mutter an dessen Bretterschuppen gelehnt, mir das Buch hinhaltend, ich, mit dem Rücken zu ihr, begeistert vorlesend. Diese Strafkolonie gibt ja hervorragende Anweisungen, wie die Haut wirkungsvoll bearbeitet werden kann. Unser Nachbar muss während der gesamten Lesung im Schuppen gewesen sein und fiebernd gelauscht haben; denn in den nächsten Tagen beobachteten wir, Vater, Mutter und ich abwechselnd, um nichts zu verpassen, wie der Kerl alles mögliche technische Zeugs in den Schuppen brachte. „Lena“, rief er nach ein paar Tagen seine Frau, „schau mal, was ich da konstruiert habe. Setzt dich mal rein in das Gerät, es beseitigt deine Pickel.“ Lena freilich wollte, dass ihr Mann ihr vormachte, wie man das Gerät besteigt. Und er ließ sich anschnallen, ließ eine von den Lochkarten einsetzen, und schon legte das Gerät los, ritzte ihm auf dem Rücken die entsprechenden Wörter in die Haut ein. Da er aber nicht wusste, welche Karte Lena erwischt hatte, war er gezwungen, das Geschriebene zu entziffern, um die Apparatur - wie eigentlich geplant - zum Stillstand bringen zu können. Wie gesagt, daraus wurde nichts und auch mit Lenas Pickeln wurde das nichts mehr. Mutter meinte: „Lesen und noch mehr, nicht lesen zu können, ist eben gefährlich. Man sollte das Schreiben verbieten.“ |