Im Spiegelkabinett


Das markgräfliche Schloss zu Rastatt ein Panoptikum?

Mir schien es so, nachdem ich auch hier wie bisher in jedem einigermaßen berühmten Schloss darauf hingewiesen worden war, dass mich die Augen einer porträtierten Gestalt durch den ganzen Saal verfolgten und sich die rechte Schuhspitze des Porträtierten immer dem Betrachter zuwende.
Und nun erst der nächste Raum! Ein funkelndes Spiegelkabinett! Ein perfektes Spiel mit Wirklichkeiten, die keine zu sein schienen und doch allemal besser wirkten als die verheerenden Wirklichkeiten des Alltags. Aus allen Richtungen, von links und rechts, von schräg oben und schräg unten blickten mich meine eigenen Augen an. Hob ich den rechten Arm zum Gruß, hoben meine Spiegelbilder den linken, ja, und manche erstaunlicherweise auch den rechten!
Meine Besuchergruppe war längst weitergegangen, da poussierte ich immer noch mit mir selbst.
Jetzt stand ich richtig! In langer, unendlicher Reihe beugten sich meine Ichs nach vorne, um zu mir herzusehen und zogen sich zurück, wenn ich mich zurückbog – bis auf eines. Es blieb vorne. Gut geschätzte zwölf Meter von mir entfernt. Beugte ich mich vor, verschwand es und umgekehrt.
„Hey“, rief ich, „du bist mir ein kurioses Ich!“
Da winkte das Ich mir jovial zu und machte mir mit Gesten klar, ich solle zu ihm kommen. Ich zögerte, war mir der Einstieg in einen Spiegel doch bisher noch nie gelungen! Ich vernahm lediglich einen gläsernen Klang wie von einer Celesta und einen eisigen Luftzug, und schon schritt ich auf mein Ich zu. Kaum hatte ich es erreicht, wies es mich an, ihm gegenüber die Grundstellung eines Menuetts einzunehmen. Wie von selbst fanden meine Füße die rechte Haltung, meine Arme hoben sich und die Finger taten so, als hielten sie ein Seidentuch. So erstarrte ich. Gott sei Dank konnte ich die Augen bewegen, tastete mein Gegenüber von oben bis unten ab und entdeckte eine Unmenge entscheidender Unterschiede. Während ich prächtig barock gekleidet war, hatte der andere meine schlabberigen Hosen und meinen saloppen Pulli an. Er war auch keineswegs starr und stumm!
„Hey“, rief er, „du bist mir ein kurioses Ich!“
Während er mir jovial zuwinkte, trat er nach vorne und wandelte den Gang entlang hinaus. Ich vernahm wieder den gläsernen Klang und dann plötzliche, absolute Stille. Weg war er!
Erst als eine nächste Besuchergruppe lachend und blödelnd das Spiegelkabinett betrat, löste sich meine Starre. Ich wählte sehr bedachtsam einen mir einigermaßen ähnlich sehenden Gaffer aus, winkte ihm zu und machte ihm mit Gesten klar, er solle zu mir kommen.
Alles klappte, wie ich es mir erhofft hatte, und ich konnte meine Schlossbesichtigung fortsetzen, mit der falschen Gruppe zwar und in fremden Kleidern, doch immerhin!